Weekend, Berlin

„Du bist sicher nicht von hier, oder?“ Seine Augen hatten Mühe sie scharf zu sehen. War das die Flasche Berliner Luft, die sie vorher noch in Tims Wohnung getrunken hatten, oder war er einfach zu müde nach dieser halb weggeworfenen Nacht? Selbstsicher hatte sie sich vor ihm aufgebaut und nahm gekonnt lässig einen Zug. Berlin, Du entstellte Stadt, Du hast die toughesten Frauen. Sie roch nach Kaugummi von HubaBuba Coca Cola. Als er, wie es in den letzten Wochen oftmals zur schlechten Angewohnheit geworden war, ausdruckslos in ihre Augen starrte ohne etwas zu sagen, wiederholte sie die Frage:“Bist Du von hier?“ Er ließ seinen Blick über den kubusförmigen Raum vor ihnen schweifen und blickte zu den vielen jungen Mädels, die sich im wilden, eisblauen Flackern räkelten. Ein Gefühl von erhabener Gleichgültigkeit überkam ihn. Früher hätte ihn ein solcher Abend in Fahrt gebracht. Sie stand immer noch mitten vor ihm und hatte die Arme verschränkt, während er mit stoischer Ausdruckslosigkeit in die Tiefe der von weißem Flimmern durchzogenen Dunkelheit blickte. Er wandte sich wieder zu ihr zurück. Ihr Gesicht schien seltsam verschwommen zu sein. Für einen Moment hatte er das Gefühl durch sie hindurchschauen zu können. Er versuchte sich wirklich zu konzentrieren und kniff die Augen zusammen. Sie war verschwunden. Er stand etwas verloren an der Treppe. Einige Leute rempelten ihn auf ihrem Weg zur Toilette an. Er wusste nicht so recht, ob er sich bewegen sollte. Einfach zu gehen schien ihm seltsam, aber sich nach altem Muster in die tanzende Menge zu stürzen war ihm zuwider. Obwohl es tiefster Winter war, wollte er auf die Terrasse. Hier hatte er tolle Abende und wundervolle Morgen verbracht, vor langer Zeit. Langsam stieg er die marmorierten Betontreppenstufen hinauf und ließ seine Hand, in den Erinnerungen an aufregende Zeiten an diesem Ort, über das Industriegeländer streifen. Fast kindliche Vorfreude überkam ihn, als er die dicke Feuerschutztür mit aller Kraft aufdrückte. Als dämmerndes Licht von Draußen durch den Spalt drang, wähnte er sich schon mit weit aufgeknöpften Hemd, einem frischen Kaffee auf dem Schoß in den Armen bildschöner Großstadtfrauen.

Doch der Glanz war verschwunden. Vor dem jungen Mann lag das ernüchternde Bild eines faden Tagesanbruchs an einem Sonntagmorgen im Januar über den Dächern Berlins. Selten leuchtete bereits ein Dachfenster. Auf den großen Straßen waren nur vereinzelt gelbe und rote Scheinwerferpaare im öligen Dunst zu erkennen. Allein der schwache Schimmer der aufgehenden Sonne hinter den grauen Schleierwolken, der sich im Fernsehturm leblos spiegelte, ließ an den glanzvollen Schein erinnern. Eine eisige Böe fuhr über die menschenleere Dachterrasse. Im Sommer tanzte zu dieser Zeit hier die niemals müde Entourage ausgelassen, um die Nacht, die Stadt, und sich selbst zu feiern.

Der junge Mann spürte wie sich seine Nackenhaare aufstellten und wie die Müdigkeit ihn durchkroch. Wie unvermittelt aus einem Zustand der Trance gerissen, zogen an ihm die Geschehnisse der letzten Wochen vorbei und ihn überkam erneut das Gefühl der Ohnmacht, das im Moment des Emporsteigens und gespannten Erwartens wie ausgelöscht zu sein schien. Die Ohnmacht, sein Leben und dessen Verlauf ins Leere nicht aufhalten zu können. Die Geschehnisse nicht rückgängig machen zu können, und diese auch durch inszenierte Selbstaufgabe und Erniedrigung nicht versühnen zu können. Unter den tanzenden Mädels, die einige Etagen unter ihm kokett an ihren Champagnergläsern nippten und in der Ecke Mentholzigaretten rauchten, hätten ihn sicherlich viele sofort mit nach Hause genommen. Doch er dachte unentwegt an die eine und wusste, dass sie jetzt wohl auch wach lag, irgendwo da unten vor ihm im grauen Häusermeer und auch an ihn dachte und dass er alles kaputt gemacht hatte. Alleine kommen wir auf diese Welt, alleine verlassen wir sie. Den Satz hatte er irgendwann einmal gehört. Auf einer Beerdigung zu Hause auf dem Land vielleicht.

Langsamen Schrittes bewegte er sich auf das Geländer der Terrasse zu. Der Rauhreif, der sich über Nacht um die dicke Metallstangen wie weißes Efeu gelegt hatte, schmolz sofort unter seinen Händen. Er kletterte über die Balustrade und blickte Stockwerke in die Tiefe auf den verschneiten Alexanderplatz, während über dem wolkenverhangenen Horizont ein neuer Tag anbrach. Er hatte gedacht, dass es schwerer wäre loszulassen, doch in jenem Moment genügte es sich einfach nur fallen zu lassen, vor Müdigkeit. Es war wie sich am Ende eines langen Tages ins Bett fallen zu lassen. Er ließ die Stange des Geländers los und stürzte in die Tiefe.

In derselben Sekunde, unweit der Großhirnrinde des jungen Mannes, in der Abermillionen weiß leuchtender Neuronen in unablässigem Aufeinanderprallen, das zumeist grelle Lichtblitze im Dunkel des Nervenwaldes aufleuchten ließ, rasten zwei ähnliche Elektropartikel einer nahverwandten Gattung über die sich scheinbar unendlich in einsame Dunkelheit streckende grüne Transistorenlandschaft auf silbern schimmernden Bahnen in irrwitziger Verfolgungsjagd. Um viele Ecken, über und unter Konnektorbügeln, die aus der zweidimensionalen Landschaft herausragten, liefen sie, um letztlich nach einer langen Strecke, (man bedenke, dass sich dies doch alles im Zeitraum weniger Nanosekunden abspielte), in der dreidimensionalen Tiefe zu verschwinden. Sie prallten mit der für ihre mikroskopische Größe vernichtenden Geschwindigkeit auf einen spiegelglatten Oberfläche und erzeugten, sobald sich beim Zusammenstoß mit der grauen Platinscheibe in Energie verwandelt, ein wahres Feuerwerk von Kettenreaktionen im hinter der Scheibe liegenden Prozessor, der golden wie eine spätgotische Kathedrale mit scharfkantigen Zinnen über dem grünen Reich aus Plastik und aufgedampften Silizium thronte. Der Prozessor verrichtete zuverlässig wie zu jeder Sekunde sein ihm zugedachtes Werk als Schaltzentrale, ließ auf einem matt-braunen Display blass schwarze Balken ihre rechtwinkligen Formationen ändern und kam auch dem für eben diese Sekunde entscheidenden und jeden Tag einmaligen Aufgabe nach. Er pumpte in rhythmischer Gleichmäßigkeit einen Schwall an elektrischen Boten durch die feuerroten Kabelstränge, die mit einem winzigen trichterförmigen Apparat mit goldenen Schweißnähten verbunden waren. Daraufhin hebten und senkten sich die millimeterdünne Teppiche aus feinster Carbonplastikfaser, die sich über den Trichter spannten, in fast ekstatischem Zucken. Sie setzten die Luft in so kurzen und immer wieder ändernden Abfolgen in Bewegung, so dass, den schwarzen Kasten, der den Ausflug ins Nanoskopische beherbergte, durch wabenförmige Öffnungen verlassend, und so wieder in den gewohnten Maßstäben der Wahrnehmung angekommen, ein schriller penetranter dreikläniger Piepston zu hören war. Der junge Mann, dessen anfänglich wild sausende Neuronen nun die Richtung umkehrten und ihren Lauf verlangsamt hatten, schreckte aus seinem Schlaf.

 

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