Café Prückel, Wien

 

Manchmal bedarf es zum besseren Verständnis eines abstrakten lang tradierten Konzeptes eines anschaulichen Beispiels. Wenn eine Idee durch Jahrhunderte und Münder fremder Sprachen gewandert war um sich mit Schattierungen und Stilvariation anzureichern und sich gleichsam in verschiedensten Spielarten auszufransen, konnte es passieren, dass sich der Begriff im Eigentlichen seiner ursprünglichen klaren Definition und Formensprache entledigt hatte und von einem undurchschaubaren Dschungel interpretatorischer Gewächse verdeckt wurde. In solchen Fällen bedurfte es um Klarheit zu schaffen, eines Beispiels, eines Begriffs-Protagonisten, der – um dem floralen Bild treu zu bleiben – wie eine Machete das undurchsichtige Gestrüpp der historischen Überwucherungen durchschlug und für kurze Zeit einen Blick auf die Lichtung freigab, auf der man glaubte jene viel beschworene Ursprünglichkeit erahnen zu können. Unter dem fulminanten Auftritt des schwer reproduzierbar Exemplarischem, der alle Deuter und Dichter in stiller Zustimmung vereinte, verebbten die hitzigen Debatten über vermeintliches Kennertum. Es war, als ob der Eintretende mit seinem Erscheinen der bis eben noch anschwellenden Rhetorik ein Ende hatte setzen wollen. Wie szenisch treffend, fast dramaturgisch pünktlich, alles fiel, war den Freunden erst einiges später aufgefallen.

Sie hatten sich die Köpfe heiß geredet im Café Prückel. Auslöser des Wörtersturmes, der über die kalkweißen Linoleumtische des Prückel fegte, war ein winziger, grammatikalisch sogar elliptischer Nachsatz gewesen. Zuvor hatte das Gespräch zwischen dem jungen Mann und seinen Begleitern – voll kollegialer Zustimmung und gewisser Belesenheit – von dem Autor Christian Kracht und dessen jüngstem Werk gehandelt. Am Nebentisch saß eine vortrefflich verträumt und traumhaft gut aussehende Blondine, die lockendrehend in eine Lektüre vertieft war, deren Titel – mochte es gar 1979 sein (!) – man nicht genau erkennen konnte. Ab und zu hatte man abwechselnd, wohl in wortloser Absprache untereinander, die Schönheit gemustert und penibel darauf geachtet das – so glaubte man – deutungsschwangere Gespräch in Hörweite der Literaturfreundin zu halten. Doch plötzlich kippte das Gesprächsklima im Kaffeehaus. Seine Klammer über die modischen Versuche des Schweizer Popliteraten hatte einer der Freunde mit besagtem Zwist bringendem Nachsatz geschlossen: „Kracht, dieser Dandy“. „Kracht ist doch bitte kein Dandy!“ Nach einer kurzen Pause, war es die tiefe Stimme des Juristen gewesen, die wie ein Donnergrollen den ersten Einwand hervorbrachte. „Für einen Dandy, hat Kracht zu viel Gehaltvolles im Angebot.“ Der Himmel verfinsterte sich zunehmend als der literarisch wohl Beflissenste der Runde das Wort ergriff. Ein Dandy ist weit mehr als ein exaltierter Beau mit einer Sonnenblume im Knopfloch.“ Der junge Mann, nicht wenig in der Welt herum gekommen, war aus der verlegenen Betrachtung seines Kaffeemilchschaumes erwacht und vervollständigte nun geradezu widerwillig die Runde der Diskutanten. „Ein Beau ist nichts anderes als ein französischer Dandy. Und der Begriff Dandy war es, der in London aus dem Wunsch junger Gentlemen entstand sich vom französisch kultivierten Lebemann abzugrenzen. Distanziert wurde sich übrigens auch von der barocken Weiberklamotte des Mannes. So entstand im Übrigen der körperbetonte Zweiteiler aus Jackett und Hose, seither als Anzug bekannt.“ „Womit wir wieder beim Thema wären, die Kleidung macht den Dandy.“ „Weit mehr als das! Dandy sein, oder sein wollen, wir sprechen hier von allein nur Anstrebbarem, ist eine Lebensart!“ Nach einigen weiteren Anfeindungen und Rechtfertigungen des Dandy Ideals wurde es zunehmend heikel, was auch die Blondine am Nebentisch jetzt an der anschwellenden Lautstärke erkennen konnte und sie aufblicken ließ. Jetzt ging es nicht mehr um die intellektuelle Hoheit über eine Begrifflichkeit, ein Lebensentwurf wurde verteidigt.
Gerade als einer der Freunde den ersten bösen Stachel setzen wollte um den Dandy als ‚große philosophische Provokation‘ für tot zu erklären, öffnete sich die prückel’sche Schwingtür und trug einen Brise von Indian Summer in den muffigen Speisesaal. Eine Erscheinung, wie ein Wetterleuchten, war vor die Freunde getreten und erstickte alles Kontroverse im Keim. Ein junger Lord Byron, Felix Krull oder gar Dorian Gray, um nur die prominentesten Assoziationen zu nennen, die der Runde jetzt durch das kollektive Gedächtnis spukten, stand vor ihnen. Die Haare wellig zurückgekämmt, das Haupt von nobler Blässe verschleiert und zu stolzer, aber nur andeutend herablassender Pose erhoben, blickte er suchend um sich. Selbst die Autorität resistenten Kellner des Prückel schienen in seiner Anwesenheit etwas gebeugter und weniger behäbig umherzulaufen. Er trug einen cremefarbenen Sommeranzug, der auf schwer verständliche Weise in seiner altmodischen mangelnden Passform den Konturen seines Trägers schmeichelte wie es wahrscheinlich kein Maßwerk jemals vermocht hätte. Dazu ein fliederfarbenes Hemd und tatsächlich im Knopfloch eine Kornblume. Keiner der Freunde vermochte auch nur einen Ton heraus zu bringen und das Schweigen hielt auch dann noch an, als der Neuankömmling – Parvenü hätten ihn die Freunde wohl neidvoll gerne genannt – an ihrem Tisch vorbei stolzierte und der freudestrahlenden Schönheit einen klangvollen Kuss aufdrückte. Nach langem Schweigen war es der Jurist gewesen, der erneut die Richtung vorgeben mochte. „Wollen wir zahlen?“ Zustimmendes Schweigen allerseits.

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