Bar del Carmine, Milano

Normalerweise musste man ihn nicht überreden auszugehen, doch an diesem Abend hatte er lange überlegt, ob es sich lohnen würde der Einladung seines Bekannten zu folgen und mit ihm den Abschluss seines Projektes an der Designschule zu feiern. Grund war, wie immer, die erwartete Gesellschaft. Das letzte Mal hatte er den Abend damit verbracht sich von einem Indutriedesign-Studenten in Piratenkostüm erklären zu lassen, warum „Polo on Ice“ der neue Volksport sei und man niemals nach Ibiza fahren dürfe, weil das ausgebrannt sei und Sardinien das neue Ibiza sei und Ibiza im Vergleich zu Sardinien einem Urlaub im Schwarzwald gleich käme. Unweigerlich hatte er sich damals eingeölte sonnengebräunte Raver vorstellen müssen, die ausgelassen im Pascha tanzenden und ihre dicken buschigen roten Schwarzwaldbommeln auf dem Kopf auf und ab wippen ließen. Erst zu Hause dämmerte ihm, dass der Pirat seine Verkleidung leider genauso ernst gemeint hatte wie jeden Ratschlag.

Das Angebot des Bekannten ihn sogar mit dem Wagen an der Tür abzuholen hatte ihn letztlich überzeugt. Der Gedanke an kostenlosen komfortablen Transport mit Sitzheizung war in diesen bitterkalten Tagen zu verlockend. Die Designclique hatte sich unter den Heizstrahlern auf der Piazza del Carmine bereits breit gemacht und er fand auch den Piraten wieder, der mittlerweile zum Buddhismus  oder irgendeiner anderen Religion mit zügelloser Selbstentfaltung und Ganztagspyjama konvertiert war. Die meisten Gesichter kannte er. Einige nicht, vor allem nicht die rothaarige Schönheit, deren Name er leider nicht richtig verstanden hatte. Entweder sie hieß, Martina oder Marina oder Martini? Von seiner ersten Begegnung mit ihr ganz benommen hatte er versehentlich direkt neben dem Piraten Platz genommen. Aber je später der Abend wurde, umso mehr verlor er die Konzentration für andere Dinge außer der Schönheit dieser Frau. Dort saß sie, groß, schlank, in aufrecht vornehmer Haltung. Ihre roten Haare fielen in einem dichten und samtig schimmernden Zopf über ihre Schulter.

Er hatte aufgegeben, seinen Stolz über Bord geworfen und sich entschlossen, alle Schmach und Erniedrigung in Kauf nehmend, seine Aufmerksamkeit allein nur ihr zu schenken. Er winkelte den Kopf leicht an und betrachtete sie eindringlich mit fast schmerzverzerrtem Ausdruck. Den Pyjama-Pirat, der nach wie vor auf ihn einredete und von Sandburgen in Sardinien träumte, beachtete er nicht mehr. Er verschmolz mit dem Gebrabbel der Anderen, der Wärme der Heizstrahler, den Lichtern der Straße zu einem diesigen Äther, der ihn umströmte, und der nur in der Aura der Schönheit an Schärfe gewann. Dann drehte sie ihren Kopf leicht nach rechts und blickte ihm direkt in die Augen. Aus diesem, ihrem perfektestem Winkel traf der Aufschlag der Lider ihrer efeugrünen Pupillen ihn wie eine Druckwelle. Er war versucht sich schüchtern abzuwenden, doch ihr Blick war stark und fordernd und es schien, als überrasche es sie kein Stück sich schon die ganze Zeit direkt im Zentrum seiner fortwährenden Aufmerksamkeit zu befinden. Cool bleiben! Er hielt ihrem Blick stand und nahm lässig einen Schluck seines Orange Sunrise, der wie immer vorzüglich schmeckte. Ohne auf sein Glas zu achten, hatte er den Strohhalm dort drin vergessen. Schon schnappte er ihm Woddy Allen gleich ungelenk aus dem Glas, und ein dicker Tropfen platschte ihm unter die Nase. Es war schon spät und der Weg zurück nach Hause würde um einiges unkomfortabler sein als die Hinfahrt.

 

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