Das Weiß der Leinwand

Der Knirps mit wilden Räuberlocken war bisher ganz ins Spiel bunter Bauklötze vertieft. Er hatte sie zuvor freudevoll aus einer großen Trommel geschüttet, die vor vielen Jahren wohl einmal Waschmittel enthalten haben musste – man erkannte noch das dickbuchstabige Logo in Rot auf blau-weißem Hintergrund – und die nun mit zusammengewürfelten Spielereien gefüllt, für den Zeitvertreib der kleinen Gäste des Cafés bereit stand. Er hatte den gesamten Inhalt des Spielzeug-Sammelsuriums auf den Boden entleert, in seinem Gesicht stand der Ausdruck der archaischen, manischen Freude, eines Kindes, das seinem Drang nach Chaos und Krach unverhohlen freien Lauf lassen darf, indem es keuchend Sandburgen zertritt oder auf Klaviertastaturen herumhämmert. Der Ekstase angesichts der schnell und geräuschvoll heraufbeschworenen Unordnung war nun eine meditative Konzentration gewichen. Während die winzigen Hände bunte Holzsteine aufeinander stapelten, vergaß der Junge die Welt um sich. Seine Mutter hatte mit Erleichterung bemerkt, dass sie für einige Momente unbeobachtet war. Die erdrückende Beklemmung, die uns im Moment existentieller Sorgen ergreift, stand auch ihr ins Gesicht geschrieben. Die Schönheit einer jungen Frau war unter einem fahlen Teint zu erkennen und ihre Augen waren verquollen und von weiten Rändern gesäumt, die im kraftlosen Licht unheilvoll in tiefem Blaugrün schimmerten. Während Sie aus dem Fenster in die Dunkelheit der verregneten Nacht hinaus blickte, hatte sie ihre linke Faust nervös geballt und fest an ihr Kinn gepresst. Mit der anderen Hand rauchte sie zitternd unablässig Zigarette. Eine Zigarette war unbeachtet in der porzellanfarbenen Schale herunter gebrannt und hinterließ ein Gerippe aus Asche, wie die verbrannten Überreste eines Räucherstäbchens. Im Moment ihrer vollkommenen Gedankenversunkenheit, beendete der Knirps sein Spiel, zog sich an der Tischplatte empor und griff nach dem noch Glimmenden. Mit erstaunlicher Sorgfalt, fasste er mit spitzen Fingern den Filter und hielt sich den Glimmstängel vors Gesicht, fast so, als betrachte er statt dem unruhigen Flackern die zaghaften Fühlerbewegungen eines seltenen weißen Insektes, das er in Sorge um dessen Leben behutsam zwischen den Fingern hielt. Gerade als er den Stängel in Richtung seiner gespitzten, rosaroten Lippen führen wollte, fuhr seine Mutter herum und entriss, ihrem wütend protestierendem Sohn sein neues Spielzeug, vergrub es mit Schuld vollem Blick tief im Gräberfeld des Aschenbechers und verließ noch binnen derselben Minute die Bar.

In manchen barocken Gemälden fand man Cupide, die ihrer Erscheinung nach gerade dem Säuglingsalter entwachsen sein mussten, in ausschweifenden Gelagen und Festen, mit Kelchen und Weinschläuchen in Posen tiefer, seliger Trunkenheit. Heute hätte Caravaggio den kleinen Liebesboten in ihrem zärtlich zänkischen Spiel, ebenso eine Zigarette in den Mund gelegt. Der Anblick des beinahe zum Raucher gewordenen Kleinkindes stand mir auch dann noch vor Augen, als Mutter und Kind längst in der Nacht verschwunden waren.

Immer wieder tat sich diese Szene aus vergangenen Tagen vor mir auf. In dieser Woche häufiger, als jemals zuvor. Selbst im Traum war mir der Knirps erschienen. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, bis ihn seine Mutter packte und auf ihren Arm hievte und ich sah, dass es mein eigenes war. Damals so dachte ich, war der Knirps noch ungestraft davongekommen. Heute, einige Jahre später, dürfte dieselbe Neugier den kleinen Jungen wohl schon des Öfteren in Schwierigkeiten gebracht haben. Man erwartet von uns zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können und die eigene Rastlosigkeit kontrollieren zu können. Diese Gedanken kamen mir, wieder und wieder, während ich, wie vor einer Prüfung, vor den schweren Flügeltüren des Saales der Universität der Angewandten Künste wartete. Ich würde mich bald rechtfertigen müssen für meine unkontrollierbare Rastlosigkeit und Faszination für das Genie und die Schöpferkraft eines Mannes, die von mir Besitz ergriffen hatte. Doch zuerst war es die Kunst selbst gewesen, die mich in ihren Bann gezogen hatte. Die Kunst des farblosen Weiß.

Die Kunst des farb- oder gegenstandslosen Weiß hatte mich schon zu Beginn meines Studiums bewegt. Die Technik des „Weiß ohne Farbe“, besteht darin, die weißen Lücken der Leinwand, das „Nichts“, zwischen dem Gemalten, das nur bei einem bestimmten Abstand zum Objekt sichtbar wurde, in das Kunstwerk mit einzubinden. Die wahren Meister erkannte man im Umgang mit dem Nichts. Das Weiß in Ihrer Palette musste nicht gemischt werden. Es war so viel weiße Farbe vorhanden, wie die Leinwand ihnen zur Verfügung stellte. Nicht mehr und auch nicht weniger. Bei diesem Umgang mit dem gegenstandslosen Weiß bedarf es allerdings nicht nur eines besonderen Maßes an nahezu hellseherischer Weitsichtigkeit und Kunstfertigkeit. Er verlangt jedem Künstler auch eine Prüfung seiner eigenen Persönlichkeit ab. Sich auf den Raum der Leinwand als einzige Ressource das Weiß, also das Nichts zu verlassen, bedeutet auch, sich zur Eingeschränktheit der eigenen Mittel zu bekennen und sich der Erbarmungslosigkeit eines Fehlers des Kunstwerkes, des Schaffens und in letzter Konsequenz auch seiner selbst einzugestehen. Das Weiß der Leinwand war schonungslos. Seine Jungfräulichkeit konnte mit keinem auch noch so meisterhaften Trick wieder hergestellt werden.

Meine Gedanken wanderten durch die Vorlesungen meines Studiums. Ich versuchte mich an meine erste Begegnung mit dem farblosen Weiß zu erinnern. Einigen meiner Dozenten würde ich in wenigen Momenten gegenübersitzen. Ich dachte an Dr. Ritters Vorlesungen zur Paragone, den „Wettstreit“ um die Krone der Kunst, der während des Frühbarrock und der Renaissance am heftigsten tobte, zwischen Bildhauerei und Malerei. Lange Zeit konnte sich die Bildhauerei mit ihren edlen Materialien und plastischen Darstellungen der Mächtigen und Herrschenden, zu deren künstlerischer Ausdrucksform sie avanciert war, behaupten. Die Bildhauerei und ihre Vertreter hatten sich gegen die gleichwertige Anerkennung der „einfachen“ Malerei erbittert gewehrt. Vielleicht war es ein später Versuch der Maler gewesen, die beiden Künste versöhnen zu wollen, als sie sich den Anspruch des farblosen Weiß auferlegten. Die Bürde der Einmaligkeit des Schaffens, die bisher nur die Bildhauerei tragen musste, war so auch auf die Malerei übertragen worden. Sie wurde zur Beflügelung und Erdung der Kunst gleicher Maßen. Dort wo der Meißel nur ein einziges Mal angelegt werden durfte, musste auch der Pinsel das Weiß der Leinwand unberührt lassen.

Ich habe diesen erbarmungslosen Anspruch der Malerei des farblosen Weiß nie ertragen. Doch noch viel mehr, als die nüchterne Arroganz des Meisterlichen, bedrückte mich die Leichtigkeit mit der wenige Auserwählte sich ihrer bemächtigen konnten. Georg von Kosewitz war einer der wenigen späten, fast schon modernen Nachzügler, die die Kunst des farblosen Weiß für sich entdeckt und perfektioniert hatten. Als ich im Seminar „Die geheimen Meister der Moderne“ zum ersten Mal vor einem von Kosewitz stand, erfüllte mich sofort ein Gefühl neidvoller Verehrung. Wie für mich, musste die Kunst, ein knappes Jahrhundert vor meiner eigenen Zeit der Selbstfindung, für den jungen Mann die einzige Möglichkeit gewesen sein, der Sensibilität und dem Drang nach Ästhetik innerhalb des gesellschaftlichen Korsetts Ausdruck zu verleihen. Bereits zum jungen Genie avanciert, konnte von Kosewitz dennoch der hitzigen Versuchung nicht widerstehen sich für sein Vaterland in einen dümmlichen Krieg zu begeben. Wie durch ein Wunder, so schien es, hatte er bekannte Schauplätze des grauenvollen, großen Krieges unbeschadet hinter sich gelassen. Dann, an einem kaum verheißungsvollen, milden Sommerabend; von Kosewitz war lediglich zur Wache des Munitionslagers beordert worden, kam es zum Unglück. Kurz nach einem überraschenden Angriff französischer Artillerie, schlägt ein Volltreffer im Depot ein, zehn Wachsoldaten, darunter der Obergefreite Georg Friedrich von Kosewitz, werden von der Explosion pulverisiert. Bei seiner notdürftigen Beisetzung entschied sich die Kompanie, statt seiner unauffindbaren Überreste seine Skizzen zu begraben. Von Kosewitz´ abruptes und trostloses Ableben verhalf mir zwar zu einem milderen Blick auf den Genius, aber selbst unter dem Donnergrollen des Krieges hatte die Presse damals Requien über das tragische Dahinscheiden eines der größten Nachwuchstalente angestimmt. Sein früher Tod hatte ihn unsterblich gemacht. Ich begann mich mit von Kosewitz zu beschäftigen.

Mit jeder neuen Kleinigkeit aus seinem Leben, die ich mühevoll aus Archiven und Kunsthandlungen ans Tageslicht zerrte, wuchs mein Interesse für den Künstler. Ich war besessen von Georg von Kosewitz. Wie zum Spott und Hohn für seine Nacheiferer, hatte von Kosewitz mit federleichtem Pinselstrich das Weiß seiner Wolken, Seen, Häuser und schneebedeckten Berge umzeichnet. Als ob er auch jeden Kenner der Technik mit Verachtung hatte strafen wollen, überließ von Kosewitz selbst die Darstellung kleinster Flächen, der drallen Leiber entfernter Kuhherden und dem glänzenden Gefieder weißer Tauben auf dem Marktplatz von San Marco, dem heimlichen Gehilfen eines jeden Werkes; der Leinwand. Doch so leichtfertig von Kosewitz auch mit der unsichtbaren Farbe hantiert haben mochte, das Ergebnis war meisterlich.

Schon öfter hatte ich mich in der Reproduktion geübt, doch selten war das Kopieren großer Meister für mich mehr als eine kreative Übung gewesen. Ganz anderes bei von Kosewitz. Monate verbrachte ich mit dem Anfertigen von Probeskizzen, und auch das Zeichnen mit Öl war ein Kraftakt. Es musste perfekt werden und obwohl ich mich vorsorglich für eines kleines Format von Kosewitz‘ entschieden hatte, scheiterte ich immer wieder aufs Neue. Mit jedem falschen Pinselstrich, schien es mir, als wäre die Leinwand entweiht und unbrauchbar geworden. Nach unzähligen Versuchen und mehr als einem halben Jahr Arbeit, wagte ich, was sich später als das Natürlichste überhaupt herausstellen sollen, ich kopierte Kosewitz nicht, ich malte ihn neu. Und plötzlich saß jeder Strich und das farblose Weiß entfaltete seine Magie von Reinheit und Tiefe, die keine irdische Farbe je zu schenken vermochte. Hundert Jahre nachdem von Kosewitz von einer gewaltigen Feuerwalze zu Staub zermahlen worden war, an einem ebenso kaum verheißungsvollen milden Sommerabend, setzte ich seine Signatur auf die Leinwand.

Die Türen des Prüfungssaales öffneten sich und ich wurde hineingebeten. Panisch versuchte ich, die soeben aufgebahrten Scherben meiner Erinnerung erneut zu sammeln, während ich den Saal betrat. Doch letztlich stand mir nur die Szene mit Mutter und Kind im Café vor Augen. Blicke ich heute zurück auf meine Geschichte, voller Kränkung und Anbetung, so tue ich dies durch die hungrigen, fragelustigen Augen jenes Kleinkindes, in denen sich das weltliche Glimmen der Zigarette mit dem ewigen Funkeln der Neugier paarte. Und ich bin mir sicher, die pathetischen Zigarettenzüge seiner unglücklichen Mutter waren für ihn damals ebenso bannend und unwiderstehlich, wie für mich die hochmütigen Pinselstriche des Meisters Georg von Kosewitz.

 

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