So eile denn zufrieden – Hölderlin
Als er aufwachte, wusste er nicht wo er war. Das war kein neues Gefühl. Meistens, nach wenigen Augenblicken des Starrens ins schemenlose Halbdunkel, hatte ihn der angenehm dicke Stoff der gestärkten Bettwäsche auf seiner nackten Haut an seinen aktuellen Aufenthaltsort erinnert. Doch in dieser Nacht wollte der Trick nicht recht funktionieren. Zweifelsohne hatte man im Majestic wieder an alles gedacht; das Zimmer war sogar ein zweites Mal gereinigt und aufgeräumt worden, während er den Nachmittag am Pool mit Blick auf den alten Kolonial-Bahnhof verbracht hatte. Man hatte sich wohl für die unvorhersehbaren Unannehmlichkeiten der Anreise entschuldigen wollen.
Schnell erschloss sich ihm der Grund seines abrupten Erwachens. Über der Stadt, ein zusammengewürfeltes Wirrwarr aus Palastkuppeln und Hochhausbaustellen, schossen Blitze durch den rot-grauen Nachthimmel, als zögen sich unförmige silberne Risse durch das Fensterglas. Die Löcher auf der Auffahrt zur Stadtautobahn schimmerten im Gewitterleuten auf, ohne von Autos verdeckt zu werden, die einander sonst ohne Unterbrechung durch die schwüle Nacht jagten. Nur vereinzelnd huschten ein paar verängstigte Taxis durch das Labyrinth der Hochautobahnen.
Er blickte auf sein Telefon: 3:37. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, schaltete er erneut in den Flugmodus und wieder zurück. Keine roten Punkte. Oft hatte er Nachrichten absichtlich nicht gelesen oder sie erneut als ungelesen markiert. Irgendwann hatten sich so viele vermeintlich neue Notizen angesammelt, dass er nicht mehr in der Lage war eindeutig zu sagen, welche Mitteilung vor Kurzem oder bereits letzte Woche eingegangen war. Jetzt war sein Display eingefroren. Keine Veränderung. Keine roten Punkte, weder auf seinem Display, noch auf irgendeinem Gerät in KL oder im Rest der Welt.
BrainSphere – der eigentliche Grund, warum man ihn seit sechs Monaten ununterbrochen rund um den Globus schickte – hatte sich bereits seit Wochen seltsam verhalten. Nutzeranfragen waren, in großem Stil, abgelehnt und per Email an fremde private User weitergeleitet worden. Alle Nachrichten trugen im Betreff eine Zeile, die auf den Titelseiten der Zeitungen erneut um die Welt gehen sollte: „NO NEED TO WORRY“. Keiner konnte sagen, woher diese Nachricht stammte. Wenn ein Politiker Dir sagt, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, dann ist meistens das genaue Gegenteil der Fall.
Letzte Woche noch hatte ein ehemaliger Kollege aus Oxford im New Yorker einen spöttischen Artikel darüber verfasst, wie sich die „Millennium-Panik“ zu wiederholen drohte und sich über „hysterische Rednecks“ lustig gemacht, die bereits begonnen hatten, Baked Beans zu horten in ihren trockengelegten Pools, die sie eilig zu Luftschutzbunkern umfunktionierten. Wie wollte man eine Welt retten, die von Einsamkeit regiert wurde? Wir waren allein mit der Technologie – ob sich diese jetzt auch noch von uns abwandte, war von marginaler Bedeutung für den Stand der Menschheit. Wie viele Stunde, Tage, Wochen hatte er selbst vor dem Bildschirm verbracht? Um was zu tun? Den unsichtbaren Golem mit Zahlen zu füttern? Mit Additionen und immer neuen Halbsatz-Zahlen-Klumpen, flink gelöst aus dem immer nachwachsenden digitalen Steinbruch.
Der Hunger überkam ihn, wie so oft, wenn er für mehr als ein paar Sekunden aus seinem Schlaf gerissen wurde. Er schlich die Mahagonivertäfelten Flure entlang Richtung Ballsaal. „Sir, the usual, sir?“ – Laura hätte ihm den Kopf gewaschen! Konnte man sich ein größeres Klischee des Postkolonialismus vorstellen? Er, im Paisley bestückten Morgenmantel, an die Hotelbar gelehnt, während ihm ein zuvorkommender Malaie mit einbetoniertem Lächeln und samtenen weißen Handschuhen eine Portion Fish & Chips servierte.
Egal zu welcher Uhrzeit, die Bar des Majestic war ein niemals schlafender, allenfalls in narkotischer Trägheit dämmernder Rückzugsort für die Nachtschwärmer KLs. Doch noch bevor er die Wendeltreppe herabgestiegen war, wurde im klar, dass auf diese Gesetzmäßigkeiten kein Verlass mehr sein würde. Es flossen keine Jazzläufe des Pianisten durch den von Zigarrenrauch geweihten Clubraum. An der Bar, die sonst Bühne für flamboyante Begegnungen Kontinentenfremder war, wie sie nur in den Metropolen Südostasiens denkbar sein konnten, herrschte absolute Stille. Das Gewächshaus, ein eindrucksvoller Orchideenpalast in dem minutiös einstudierte Teezeremonien abgehalten wurden, ruhte im Halbdunkeln selig wie ein gläserner Sarkophag. Das Majestic war menschenleer.