Der Regen hatte die Luft geklärt und über der Stadt lag die klare Kühle der Nacht. Noch war es in Heidelberg Frühling, doch bald schon sollte der Sommer Einzug halten und der Stadt eine Hitzewelle bescheren. Zur späten Stunde war die Ginsburg bis zum Bersten gefüllt. Einige Jurastudenten kamen direkt vom gegenüberliegenden Seminar. Ein kräftiger Verbindungsstudent in speckiger Wachsjacke und aufgeriebenen Timberlands stand reglos an die Theke gestützt. Matthias war ursprünglich auf Anraten seines Onkels nach Heidelberg gekommen und dem Rat des Verwandten folgend, in eine Burschenschaft eingetreten. Die ersten Semester seines Studiums der Politologie verbrachte er damit, im Keller seines Verbindungshauses lauwarmes Bier der regionalen Stammbrauerei in sich hineinströmen zu lassen und danach in eine extra dafür vorgesehene, Pisoire ähnliche Amatur, namens „Papst“ zu speien. Ansonsten ließ er regelmäßig seine grüne Jacke neu einwachsen und achtete peinlich genau darauf, dass seine Stiefel sich immer im richtigen Grad einer „schneidigen Verunreinigung“ befanden. So vergingen viele Monate und Matthias entschied sich, wie viele andere in seiner neuen Gemeinschaft, etwas „Schneidiges“ zu studieren und wechselte zu Jura. Doch das Jurastudium stellte ihn auf eine harte Probe. Im ersten Semester hatte er sich noch erfolgreich um Vorlesungen und Seminare gedrückt und stattdessen die Keller verschiedener anderer Verbindungen besucht und so viele verschiedene Papst-Modelle von außen und innen bewundern können. Doch je weiter sein Studium voranschritt, umso öfter sollte ihn seine Ausbildung an seine Grenzen bringen. Nach den nächtlichen Exzessen in weißen, voll-verkachelten Kellern, die er immer routinierter absolvierte, war Matthias, meist verkatert oder immer noch betrunken, den unangenehmen Fragen voller fremdklingender Fachtermini und zynischer Fallstellungen von Professoren und Seminarleitern ausgesetzt. Meistens kannte er die Antworten nicht. Um seinen Rückstand aufzuholen hatte man ihm einen Repititor empfohlen. Doch in Matthias Fall waren die Rückstände zu groß, sodass der Repititor nach kurzer Zeit aufgab. Zu allem Unglück stand Matthias kurz davor, sein preiswertes und standesgemäß eingerichtes Zimmer im Erker des Verbindungshauses zu Gunsten jüngerer Generationen aufgeben zu müssen, und sich in der Stadt nach einer eigenen Wohung umzuschauen. Zwar hatte er bereits nach zwei Jahren Studium – zwei Semester Politik und eineinhalb Semester Jura – schon eine Verlängerung auf dem Haus erbeten, doch nach drei langen und feuchtfröhlichen Jahren war es endgültig an der Zeit, die Obhut seiner Brüder zu verlassen. Seine uneinholbaren Studiumsrückstände und seine unsichere Wohnungssituatuion – noch nie hatte er sich um eine Wohnung kümmern müssen – machten Matthias schwer zu schaffen. Um ein wenig Abstand von seinen Verbindungsfreunden zu gewinnen, aber gleichzeitgig die nötige Nähe zum Bier zu behalten, saß Matthias oft in den angesagteren Bars und nicht in den alteingesessenen Kneipen der Altstadt. Nicht selten blieb er als Letzter und blickte durch das Zerrbild des goldgelben Gerstensafts in seine schaumig unsichere Zukunft. So auch an diesem Abend.
Der junge Mann war gerade aus der Hauptstadt zurückgekehrt und hatte auf der Durchreise einen Stopp in Heidelberg eingelegt, um der dort gebliebenen Freunde und des Frühlings willen. Keine Stadt kleidete sich im Frühling so prachtvoll. Die Kirsch- und Kastanienbäume an den Neckarauen blühten und verströmten ihren süßlichen Duft, der auf einen ausgedehnten Sommer voller milder Nächte hoffen ließ. Der eben zurückgelassene Frühling in Berlin hatte nichts von dieser festlichen Atmosphäre erahnen lassen, weckte aber vor allem auch keine Erinnerungen an alte Studententage. „Berlin ist wie immer grau“, führte der junge Mann seinen Reisebericht fort. „Berlin ist hässlich und Berlin ist vernarbt.“ Es entstand eine kurze Pause ob der achtlosen Brutalität dieser Worte. „Aber, Berlin lässt Dich in Frieden“, räumte er wohlwollend und achtungsvoll ein. „Was meinst Du mit in Frieden?“, entgegnete ihm der Freund. „Schau Dich doch mal um“, sagte der junge Mann und machte eine einladende Handbewegung im Kreis um sich herum, während er mit gesenktem Blick und in Falten gelegter Stirn fragend den Freund anblickte. Dieser zögerte, aber erwiderte dem in der Pose erstarrtenen Freund, indem er sich flüchtig nach links und rechts umschaute. Als er sich zu seiner rechten Seite drehte, duckte sich Matthias und kauerte sich schüchtern über seinem Bier zusammen, als ob er dem Blick des Freundes entgehen wollte. Der Raum war voller junger Studenten, die meisten von ihnen hatten sich nach einem Tag im juristischen Seminar zum Ausklang der Woche und als erfrischendes Intermezzo in der Examenszeit zusammengefunden, um das Wochenende einzuläuten. Als die Augenpaare des Freundes wieder auf dem jungen Mann ruhten, führte dieser fragend fort. „Und was siehst Du?“ „Ähmm, Studenten? Juristen, die meisten?“ „Und? Weiter!… Was haben die alle gemeinsam!?“ Es enstand eine kurze, dann immer längere, später unangenehm ausgedehnte Pause. „Die sehen alle müde aus?“, fragte der Freund voller Verzweiflung. Der junge Mann blickte ihn jetzt etwas weniger ernst, dafür aber verächtlicher an: „Die sehen alle gleich aus!“, sagte er bedeutungschwanger und ein wenig belehrend. „Alle die gleiche gestriegelte Matte, alle die gleichen unauffälligen Bluejeans, Perlenohringe, Poloshirts. Kragen hoch und geil bleiben.“ Der Freund blickte sich noch einmal verwundert und sehr flüchtig um: „Naja.. stimmt so in etwa.“ „Und warum?“ schob der junge Mann ein. „Weil man eben so aussieht als Heidelberger Jurastudent?“, antwortete der Freund hilflos. „Ganz genau!“. Dem Freund stand die Freude über seine zufällig richtig gewählte Antwort ins Gesicht geschrieben. „Aber warum sehen die alle so ÄHNLICH aus?“ Wie so oft versuchte er den jungen Mann etwas zu beschwichtigen, indem er seine Aussage relativierte. „Weil so eben Heidelberger Jurastudenten auszusehen haben! Wir befinden uns im Randbereich von Realität und Klischee und manchmal geht hier eben die nötige Trennschäfte verloren. Und irgendwann weiß man nicht mehr was zuerst da war, der Polokragen oder der Jurastudent.“ „Ist eben doch eine kleine, sichere Welt hier“, räumte der Freund fast entschuldigend ein. „Richtig! Und gesellschaftliche Konventionen sind der Eintrittspreis für dieses Idyll“, ergänzte ihn der junge Mann und deutete aus dem großen Fenster auf die Straße hinaus, an deren gegenüberliegender Seite im letzten Licht des Abends der verschlafene Park in vollster Blüte zu erkennen war. „Berlin aber gibt einen Dreck, wie Du Dich anziehst, was Du sagst, oder was Du denkst.“ „Noch vorgestern habe ich Gustav besucht und er hat mir von seinem Kollegen erzählt, diesem Max, der früher auch mal hier studiert hat. Erinnerst Du Dich?“ Der Freund nickte zustimmend, während er die beiden Namen lautlos wiederholte. „Also Max, war ja immer schon sehr konservativ, seit dem Abi die gleiche Freundin, jedes Jahr der gleiche Urlaub im Norden und ab und zu mit Papi jagen gehen. Aber als ich ihn in Berlin wieder gesehen habe, hätte ich ihn fast nicht mehr erkannt. Eine 180-Grad-Wende hat der gemacht. So links wie Rosa Luxemburg und die Freundin hat er auch schon lange nicht mehr. Und: keinen stört’s!“ „Die Anonymität der Großstadt“, säuselte der Freund nach einer kurzen Pause erklärend vor sich hin und nahm einen kräftigen Schluck. Die Unterhaltung wurde zunehmend leiser und widmete sich weniger aufgebauschten Themen wie der Qualität der lokalen Änderungsschneidereien und der lang ersehnten Wiedereröffnung eines Bistros auf der gegenüberliegenen Seite des Neckars.
So stand Matthias eine Zeit lang neben den beiden Freunden und lauschte heimlich deren Unterhaltung. Seine Gedanken drehten sich allerdings lange Zeit um das anfängliche Thema der Begegnung. Auch als der junge Mann und sein Freund schon längst weiter gezogen waren, stand Matthias noch immer an der Theke. Durch die beschlagenen Scheiben konnten man ihn im Gewimmel der heiter angetrunkenen Studenten noch aus der Ferne erkennen. Verträumt nippte er an seinem Pils und stellte sich vor, wie dieses fremde, neue und unbekannte Leben in der großen Stadt wohl sein würde.