Die habitable Zone ist ein schmaler Bereich in der Umlaufbahn um eine Sonne. Nur auf Planeten, die diese Bahn beschreiben, ist Leben möglich. Ist der Radius einige zehntausend Kilometer enger, so wird der Planet zu heiß. Ist der Radius größer, so liegen die Temperaturen permanent unter null. Der Planet Epsilon Eridani d kreist in einer solcher Bahn. Er umkreist in einem Zyklus von 1,4 Erdenjahren, also knapp 500 Tagen, den Stern Epsilon Eridani, der in etwa zehn Lichtjahre von der Erde in Richtung Alpha Zentauri entfernt liegt. Die Wissenschaft hatte lange Zeit gebraucht den Planeten zu entdecken. Die Staub- und Gasscheiben im inneren Teil des Systems hatten es bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts schwer gemacht die Existenz des Exoplaneten zu bestätigen. Infrarot- und Ultrainfrarotteleskope lieferten stichhaltige Beweise dafür, dass es mehr habitable Exoplaneten zu geben schien als anfangs angenommen. Es war nicht die – wie ursprünglich vermutet – Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Nach Jahren intensiver Forschung hatte man fast 200 habitable Exoplaneten in der direkten Nachbarschaft zu unserem Sonnensystem entdeckt. Doch keiner von ihnen war wie Epsilon Eridani d. Er war unter all diesen Planeten eine Besonderheit. Er hatte etwas, dass ihn aus der Reihe der wohltemperierten Geröllbrocken emporhob und zu etwas Einzigartigem machte. Zu einer Rarität, zu einer Sensation der Wissenschaft und zu einer Götze, zu einem Heilsbringer, zu einem Gott, und zur Hoffnung auf einen Neubeginn. Epsilon Eridani d hatte eine dichte Atmosphäre, auf Meereshöhe von etwa 1000 Hektopascal, angefüllt mit einem Gemisch aus Kohlendioxid und Sauerstoff.
Das hatte Giovanni gelernt, schon ganz früh. Von dem kleinen alten Männchen, das zu den Kindern sprach und das von einer Sekunde auf die andere – beim ersten Mal schien es Giovanni wie ein Zauber – im Raum umherspringen und beliebig Form und Farbe wechseln konnte. Giovanni hatte später gelernt, dass es kein Zauber gewesen war, sondern die enorme Rechenleistung des Computers und die perfekte Auflösung der holographischen Kameras, die es dem Holoteacher erlaubten neben Napoleon oder Konstantin durch die Geschichte zu galoppieren. Dann hatte er gelernt, dass es gar keinen Zauber gibt. Er hatte gelernt, warum die Menschen an Gott geglaubt und Kriege geführt hatten, woher das Licht kam und wie der Regen auf die Erde fiel. Er hatte gelernt, wie der Klang entstand und was Musik war. Und dann hatte er nochmal gezweifelt, ob es nicht doch Zauber gab. Giovanni liebte die Musik. Vor allem mochte er es, wenn sie laut war. Er stellte seine Kopfhörer manchmal so laut, dass es wehtat in den Ohren. Alles war besser als die übermächtige Stille dort draußen. Und Giovanni mochte Ludwig van Beethoven. Keiner war so laut, wie Ludwig van Beethoven. Denn er hatte nichts mehr gehört am Ende seines Schaffens. Er hatte vielmehr die Vibrationen spüren müssen. Vibrationen. Das war alles, einfach alles. Auch das wusste Giovanni. Die Dinge, die wir berühren können, setzen sich aus Molekülen zusammen, aus Gerüsten von Atomen. Diese wiederum unterscheiden sich, weil in ihrem Inneren unterschiedlich viele Elektronen kreisen, um Neutronen und Protonen. Diese bestehen aus noch kleineren Teilchen, einige konnte man anfangs nur sichtbar machen, indem man winzige Kollisionen mit enormer Geschwindigkeit erzeugt hatte. Im Inneren dieser kleinsten Teilchen, allerdings – es waren eigentlich keine Teilchen mehr – in ihrem „Wesen“ also, gibt es nichts, gar nichts. Außer Fäden von Energie, die schwingen und immerzu unablässig schwingen im Rhythmus des schweigenden Universums. Beethoven hatte dies erkannt, da war sich Giovanni sicher. Er hatte die Schwingungen einfach gespürt. Giovanni beneidete Beethoven um diese Erkenntnis, die ihm erst die Stille geschenkt hatte. Und Giovanni beneidete Beethoven um noch etwas. Darum, dass er in beiden Welten hatte leben dürfen. In der Welt des Lärms und des Chaos, in der Welt der Menschen. Und in der Welt der Stille, der Ordnung und der Isolation. Giovanni kannte nur Letztere. Er kannte kein Chaos, er kannte keinen Lärm, denn er kannte nichts was Lärm machte. Er kannte keine Autos und keine Flugzeuge. Er kannte keine Straßenmusikanten und auch keine Städte und keine Straßen. Er kannte auch nicht das Rauschen des Meeres und auch das Meer kannte er nicht und auch keine Flüsse und keine Brücken und auch nicht die eine Brücke und nicht den kleinen Juwelier auf ihr, von dem sein Vater erzählt hatte und in dem der Großvater seines Großvaters einmal einen Ring mit einer schwarzen Perle gekauft hatte. Er kannte auch die anderen Orte nicht, von denen sein Vater erzählte. Einer der Orte, von denen der Vater erzählt hatte, war das Caffè Gilli gewesen, an der Piazza della Repubblica. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass, wenn Genesis die intelligenteste Stadt der Menschheit sei, dann sei Florenz sicherlich die Schönste. Und das Caffè, so hatte es sein Vater gesagt, wäre der beste Ort gewesen um diese Schönheit zu betrachten. Alte Männer hätten dort jeden Morgen ihren Café aus kleinen Porzellantassen getrunken und man hätte Gebäck gegessen, das in einem Ofen frisch gebacken worden war. Und man hätte in der späten Sonne des Herbsts gesessen und nichts getan, gar nichts – die Vorstellung fiel Giovanni besonders schwer. Und man hätte zugeschaut, wie der Nebel über der Stadt sich langsam lichtete am Morgen und wie sich die Piazza mit Menschen füllte und wie irgendwann das kleine Karussell auf dem Platz, begann sich im Kreis zu drehen und wie die Kinder vor Freude laut nach ihren Eltern gerufen hatten, während sie sich auf kleinen Elefanten und Giraffen im Kreis gedreht hatten. Und so hätte man stundenlang im Caffè sitzen können, um eins zu werden mit der ewigen Schönheit dieser Stadt.
Doch Giovanni hätte all das, wovon sein Vater erzählte, nie ganz begreifen können. Er kannte die Welt nicht. Denn er hatte sie noch nie gesehen. Genauso wie die anderen Jungen und Mädchen auf Genesis auch. Seine Eltern, sein Vater aus dem Süden und seine Mutter aus dem Norden, waren ausgesucht worden, um ihn zu zeugen. Man hatte sie erwählt, nicht nur, weil sie die besten Wissenschaftler in ihrem Metier waren, sondern auch, weil ihr genetischer Code so unterschiedlich gewesen war. Je unterschiedlicher, umso besser, auch das hatte Giovanni gelernt. Umso besser, für widerstandsfähige Nachkommen. Für einen gesunden Jungen, wie Giovanni. Lange hatte man befürchtet, dass die Strahlung des Weltalls, die sonst durch das schützende Magnetfeld der Erde abgeschirmt wurde, zu Mutationen des Erbguts führen könnte. Dass die Männer auf Dauer impotent würden und dass sie niemals wieder gesunde junge Männer hätten zeugen können. Die Fanatiker hatten geglaubt, dass es unmöglich sei Gott zuvor zu kommen und selbst den Samen der Menschheit in eine fremde neue Welt zu legen. Doch sie hatten sich geirrt. Giovanni war jung und gesund und morgen würde sein sechzehnter Geburtstag sein. Die Fanatiker hatten sich ja schon einmal geirrt, dachte Giovanni. Die Erde war nicht zu einem unbewohnbaren Klumpen Dreck verkommen, wie von ihnen gesagt. Der Mensch hatte sich seiner Verantwortung gestellt und das Gleichgewicht wieder erneuert, welches er einst aus dem Takt gebracht hatte. Er hatte die Probleme gelöst, eines nach dem anderen. Und nach vielen Jahrzehnten war die Neugier gewachsen und die pure Neugier war es gewesen, mit der wie immer alles begonnen hatte. Und aus der Neugier wurde Genesis geboren. Jeder Erdteil leistete seinen Beitrag. Am Ende wurden die vielen hundert Labors, Gewächshäuser und Filteranlagen in der Stratosphäre zusammengesetzt. Genesis sah aus wie ein Strang menschlicher DNA. Ein Symbol für das höchste Gut des Menschen, das er jetzt entsandte um sich selbst neu zu erfinden. Die vielen kleinen Zellen kreisten an Röhren unterschiedlicher Länge um einen langes Hauptschiff. Jede einzelne drehte sich gerade so schnell, dass Zentrifugalkräfte in ihr eine Form von künstlicher Schwerkraft erzeugten. Vor vielen Jahren war man aufgebrochen und hatte schnell alles Bekannte hinter sich gelassen. Seit man vor sechzehn Jahren die Voyager Sonde passiert hatte war man so weit in den Kosmos vorgedrungen, wie noch nichts von Menschenhand Gemachtes jemals zuvor.
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