Bent Bar, Heidelberg

 

Für Christian
Den ganzen Tag über hatte es geregnet. Erst vor einer knappen Stunde schien das Unwetter nachzulassen. Wäre es ein ganz normaler Sommertag gewesen, die beiden Freunde hätten sich keine Gedanken gemacht. Sie hätten kurz aus dem Dachfenster heraus auf den Wolken verhangenen Himmel geblickt, prüfend die Hand herausgehalten und weiter gemütlich Pasta gekocht. Sie hätten vielleicht kurz darüber gesprochen, dass sie sich den Sommer anders vorgestellt hatten und dass es letztes Jahr um diese Zeit so heiß gewesen war, dass das Gras auf der Neckarwiese schon begonnen hatte braun zu werden. Vielleicht hätten sie auch kurz geseufzt und es bereut nicht die Einladung nach Portofino angenommen zu haben. Das wär’s aber auch gewesen. Dann hätten sie das Fenster kurz nochmal aufgemacht und den Pastadampf abziehen lassen. Aber dies war kein ganz normaler Sommertag in Heidelberg. Es war der Tag vor der großen Feier und schlechtes Wetter war heute wohl so unerwünscht, wie an keinem anderen Tag im Jahr. Monate im Voraus hatten die beiden Freunde überlegt wie und wo man den gemeinsamen Geburtstag begehen könnte. Die Planung wurde in einer durchzechten nächtlichen Debatte ausgearbeitet, überarbeitet, überworfen und neu aufgestellt. Zwischen abgestandenen Aperol Spritz, angeschwitzten Grappa-Gläsern und Mann hohen Stapeln von Pizzakartons ließen die beiden Freunde die Gedanken um jenen bedeutenden Abend kreisen. Unterstützt wurden sie von einem auserlesenen Kreis befreundeter Experten in Sachen Sommerfeierlichkeiten, Etikette unter freiem Himmel, Spirituosen und Antipasti sowie Beschaffung und Logistik gastronomischer Sonderware. Einige Male glaubte man bereits eine erfolgreiche Strategie und geeignete Lokalität gefunden zu haben, da brach in die trügerische Stille der vermeintlichen Zustimmung der Einwand eines Beisitzenden, der alles mit einem Schlag zunichte machte. Egal ob Finanzierungslücken, Buchungsengpässe oder verschiedene Lebensmittelallergien, immer wieder gab es Gründe nicht an jenem Ort zu verweilen, den man zuvor in mühevoller Abstimmungsarbeit auserkoren hatte. Einmal wurde gegen den Vorschlag die Feier in einer beliebten Kneipe in der Kettengasse auszurichten erfolgreich der Einwand vorgebracht, dass zwei Stockwerke über dem Lokal ein Mädchen wohne, welches mit nachweislich mindestens drei der eingeladenen Gäste bereits eine Affäre gehabt haben soll. Nach dieser unvorhergesehenen Wendung stand einer der Freunde auf, fest entschlossen sich nicht mehr an weiteren Gedankenspielen zu beteiligen. Er hielt sich schwer atmend an der Tischplatte fest und raunte etwas Unverständliches. Nur mit vielen Beschwichtigungen und einer extra Runde Grappa konnte er beruhigt wieder an den Verhandlungstisch zurückgeführt werden. Später wurde behaupte, er soll einer der drei glücklichen Liebhaber gewesen sein. Die Entscheidung fiel im Morgengrauen. Nach einem Grillfest mit etwas Varieté und ausgesuchten Leckerbissen am Neckarufer würde man gemeinsam auf dem Philosophenweg bis zur ersten Aussichtsplattform wandern und dort die Gäste mit einem privaten Feuerwerk und einer italienischen mobilen Eisdiele überraschen.
Und jetzt das. Herbstwetter. Zwar hatte die Prognose stark steigende Temperaturen und ein merkliches Aufklären vorhergesagt, doch davon war bis jetzt, gute 24 Stunden vor Beginn der Feier nichts zu spüren gewesen. Man würde die Freunde abfangen und nach und nach zur improvisierten und Wetter unabhängigen Alternative bringen müssen. Verlass war in dieser schweren Stunde auf die besten Cocktails der Stadt in der Bent Bar am Neckarmünzplatz. Zur Sicherung des gewohnt hohen Qualitätsstandards musste sie nur noch einem letzten Kontrollbesuch standhalten. Die Freunde wollten zu diesem Zeitpunkt nichts mehr dem Zufall überlassen. Der Herr der Spirituosen hatte die in sich ruhende Aura eines Mannes, der nach Jahren des Glücksrittertums in den großen Bars der Hauptstadt zu seiner wahren Bestimmung gefunden hatte. „Wohin soll die Reise gehen?“. Nachdem die Freunde an der Bar mit der schiefen (bent) Auslage Platz genommen hatten, war dies seine Eröffnungsphrase gewesen. Wie im wahren Leben war auch auf dieser Reise der Weg das Ziel. Gebucht wurde der Premium Flight. Ein Assagio jeweils verschiedener Gin-Sorten serviert mit einer Flasche Thomas Henry’s Tonic Wasser. Eine kurze fachmännische Beratung und einige wenige professionelle Handgriffe später wurde auf zwei ovalen Silbertabletts ein wunderliches Ensemble vorgestellt. In schlanken Gläserreihen überraschten Farbtöne von Honig gelb bis November grau. Nachdem erste Scheu und Skepsis gegenüber den fremdländischen Namen überwunden war, lauschte man im Abgang Geschichten fernen Ursprungs: Aus den schottischen Destillerien, der Heimat der kanadischen Tundra und vom isländischen Arktiswasser. Botanist, Miller’s, Monkey 47, Ungava und Hendricks wurden schnell zu vertrauten Begleitern in dieser wundersamen Nacht. Man freundete sich an und wurde weiteren Mitgliedern der hochprozentigen Verwandtschaft vorgestellt. Der Abend hatte annekdotisches Ausmaß erreicht.
Es war bereits weit nach Mitternacht als die beiden Freunde Arm in Arm und unter dem herzlichen Beifall des Personals in Richtung Ausgang in eine überraschend milde Nacht hinaus wankten. Das Kopfsteinpflaster des Neckarmünzplatzes glänzte im Licht der Straßenlaternen. Mit großem Einsatz versuchte man aneinander Halt zu geben und mit vereinten Kräften den Weg zum Taxistand an der alten Brücke zu finden. Nach einer überdrehten Schlitterpartie legten die Freunde vor dem Brückentor eine kurze Pause ein. Wie zwei auf dem Eis debütierende Schlittschuhfahrer hatten sie innig die Arme über die Schultern des anderen gelegt. Im Glauben das gemeinsame Gleichgewicht gefunden zu haben wagte der junge Mann einen letzten prüfenden Blick nach oben und verweilte so sprachlos. Nach einigen Sekunden verstand der Freund und tat es ihm gleich. Über den Freunden breitete sich ein schwarzblauer Sternenhimmel aus, klar wie schottisches Bergquellwasser mit einer Note von Zitronengras und einer Infusion der vollmundigsten Wacholderblüten.
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