Strafbar, Milano

Die bunten Farbpunkte der Leuchtreklame des Rinascente prasselten auf den feuchten Rinnstein der kleinen Passage zwischen Kaufhaus und Hotel. Auf der Suche nach einem geeigneten Treffpunkt um das Wiedersehen nach über einem halben Jahr zu begehen hatten sich die Freunde für die Hotelbar entschieden. Weniger die Bar selbst, die immer eine Hotelbar bleiben würde, als ihre Besucher machten die Strafbar interessant. Der junge Mann suchte den kleinen Raum, der zu dieser Zeit mit vielen Mitdreißiger Mailändern gefüllt war nach seinem Freund ab. Er fand ihn ausgestreckt auf dem speckigen Ledersofa, in seinem Gesicht schimmerte ein Ausdruck von Selbstgefälligkeit, seine Blicke hangelten sich entlang der vielen Models, die jetzt zur Fashionweek von der Lobby des Hotels zur Bar stolzierten, sich aneinander räkelnd und mit Fotographen, PR-Agenten und anderen erstaunlich erholt aussehenden Modelakaien unterhielten.
„I’m feeling supersonic, gimme Gin ’n Tonic. Old friend, I love this place!“, der Freund lehnte sich kurz aus seiner hedonistischen Pose nach vorne und begrüßte den jungen Mann mit einer herzlichen stürmischen Umarmung. „Schau Dir diese Mädels an; gefallene Engel. Kein Wunder, dass Du Dich hier gerne rumtreibst.“ Die beiden Freunde lassen das bunte Treiben aus Paillettenkleidern und Highheels an sich vorüberziehen, während Sie im Hedonistensofa, dem wohl teuersten Gin ’n Tonic der Stadt und unzähligen Geschichten über ruhmlose Heldentaten versinken. „Du hast noch nie Probleme damit gehabt Deine Untreue zuzugeben!“ „Warum auch, wann immer Du Gelegenheit dazu hast, solltest Du auch von ihr Gebrauch machen. Hast Du etwa noch nie drüber nachgedacht?“ „Sicherlich.“ „Alleine das ist schon Betrug, das ist die Idee, dann die Ausführung.“ Du hast Dich unter Kontrolle, aber die Gedanken werden vor der Disziplin geboren, Du kannst ihnen nicht zuvor kommen.“ „Treue“, so fährt der Freund fort, „Treue ist ein Heiligtum, aber genau wie bei jeder anderen Reliquie schwindet die Kraft der Faszination, die sie auf uns ausübt, je mehr sich herausstellt, dass ihr eigentlicher Ursprung nicht das Sakrale, sondern die Fälschung ist, auch wenn sie über Jahrhunderte unentwegt vor uns her getragen wurde.“
„Die Treue wird unterschätzt“, so der junge Mann. „Auch wenn niemand von der Treue spricht, ist sie doch viel weiter verbreitet als der Betrug. Nur lassen sich mit dem viel bessere Geschichten schreiben. Auf jeden Skandal über Betrug und Untreue kommen mindestens zwei Geschichten, die über Treue und Verzicht erzählen könnten. Aber wer liest das schon gerne. Das ist wie mit einem Mord, keine Zeitung schreibt wer heute noch keinen begangen hat. Doch nur weil Treue normal zu sein scheint ist sie noch lange nichts Gewöhnliches.
(c) FaSt