Bukowski Tavern, Boston

Die Luft an der Ostküste hatte etwas Besonderes. Etwas Reines und Unverfälschtes, etwas Ursprüngliches. Egal ob über den Dächern Manhattans, in den verschlafenen Gassen von Mrs Deans Fischerdörfchen in Rockport, oder hier in Boston. Obwohl dieses Fleckchen Erde in den letzten dreihundert Jahren wahrscheinlich wie kein anderes auf der Welt brutal in Blut getränkt, gerodet, besiedelt und industrialisiert wurde, hatte der junge Mann an diesen kalten Februartagen das Gefühl, die gleiche kristallklare Luft zu atmen wie stolze Schamanen und verklemmte Puritaner, die hier zum ersten Mal ankerten. Die Umrisse der kahlen Baumkronen auf der Commonwealth Avenue zeichneten sich scharf im rot schimmernden Sonnenaufgang. Er streckte sich und drückte seine eiskalten Handflächen fest auf die schneeverkrusteten Joggingschuhe. Die kalte Februarluft brannte in seinen Lungen. Er kam morgens oft hier her um das Erwachen in den dicht aneinander gedrängten Stadtwohnungen aus Backstein zu erleben. Das Leben in der Commonwealth Avenue hinter Treppenaufgängen mit üppig gewundenen Geländern und herrschaftlichem Feststagsschmuck an schweren Eichentüren verhieß ein gutbürgerliches Amerika. Und erhaschte man einen Blick in gemütliche Fensternischen am offenen Kamin wusste man nie genau ob man gerade an dem morgendlichen Beisammensein einer Bostoner Akademikerfamilie oder der Neueröffnung eines Ralph Lauren Flagshipstores vorbei rannte. An der Washington Statue hinter der sich der Boston Common unter einer unberührten dicken Schneedecke erstreckte und die goldene Kuppel des Massachusetts State House leuchtete, machte er kehrt.
Die ersten Stunden im Büro in der frühen Dämmerstimmung waren nur mit Unmengen gesüßtem amerikanischen Fliterkaffee zu ertragen und mussten stets mit strategischen Pausen über den neusten Klatsch im Pförtnerhäuschen oder in Mrs Deans Büro gefüllt werden. Mittags kehrten die Freunde in die Bukowski Tavern ein. Die Tavern war ein einfacher Laden. Hätte Mrs Dean den beiden Freunden nicht von den einmalig krossen Brötchen, den kräftigen Frikadellen mit Chillinote und der saftigen Krautbeilage vorgeschwärmt, sie hätten sich nie auf die Suche nach der Tavern gemacht. Gerade nicht hier. Mitten im Highway-Labyrinth, im staubig glanzlosen Schatten von Bostons Hochhauspromenade. Doch die Bukowski Tavern, bei aller Überstrapazierung des Ausdrucks, war eine versteckte Perle. Zwischen Unmengen signierter Red Socks-Acessoires, die manchmal gerahmt meist aber arglos an den Wänden auf gehangen wurden fand man gelegentlich Bilder aus der Bostoner Zeitgeschichte oder aus den grotesken Szenen des versoffenen und doch melancholisch mitreisenden Lebens von Charles Bukowski. Hier entfaltete sich der Charme der Tavern von dem der Freund später behaupten sollte, es handele sich dabei gar um den Charme Bostons, den viele Reiseführer als so raubeinig herzlich anpriesen, die meisten Besucher aber vergeblich suchten. Auch sollte er später voller Überschwang sagen, dass man die Jahre und Erlebnisse dieser Stätte aus jeder Fuge der verkratzten dunklen Holzvertäfelung atmen und aus jedem eingetrockneten Scotchfleck auf dem Tresen habe lesen können. Neben schnauzbärtigen Fernfahrern, die sich ihre fettverschmierten Finger am Hosenbein abwischten, und halb gescheiterten Existenzen, die dem bukowskischen Lebensstil nacheiferten und deren Seelenheil an der Gutmütigkeit des Bartenders und den noch verbliebenen Zeilen seiner Schuldenliste hing, begann man zu begreifen, dass man eine Grenze überschritten hatte. Die Freunde hatten die leicht durchschaubaren künstlichen Oberflächlichkeiten der Bostoner Szenekneipen hinter sich gelassen. Es gab keine verrosteten Straßenschildern mehr, die schräg an den Wänden baumelten und sicherlich niemals ihren Weg durch einen Lausbubenstreich dort hin gefunden hatten. Man war nicht mehr eingehüllt in falsche Fischernetze aus den angeblich heroischen Tagen Bostoner Krabbenkuttern. Stattdessen hatten die Freunde das triumphale Gefühl, in die seltene authentische Intimität einer wirklichen Ostküsten-Kneipe eingedrungen zu sein. Die Freunde nahmen Platz unter einer Schwarzweiß-Fotografie der Gründungsszene der ersten amerikanischen U-Bahnlinie. Den Bohrungsmannschaften war unter den Straßen Bostons gerade der Durchbruch gelungen. Beide Seiten hatten wie geplant zueinander gefunden. Die dreckbespritzten, halb nackten und meist farbigen Arbeiter blickten erschöpft aber sichtbar zufrieden in die Kamera. Einige von ihnen hatten im Moment der Aufnahme ihre Helme und Kopfbedeckungen in die Luft geworfen. Dem Arbeiter in der Mitte des Bildes war zuvor eine Plakette in die Hand gedrückt worden, die er unbeholfen hoch hielt; „Boston Metropolitan Transport, 24th April 1897“. Die grobschlächtige Bedienung, eine dickbusige Kaffeeausschenkerin mit weißen Spitzenschürzen, von der man in klischeehaften American Diners erwartet wurde, nahm die Bestellung entgegen. Die Freunde hielten sich in jedem Detail ihrer Order strikt an die Anweisungen der liebenswerten alten Dame aus dem Büro. Mrs Dean hatte nicht zu viel versprochen.
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