Klimperkasten, Konstanz

Imperia, die überlebensgroße Statue, drehte sich stumm um ihre eigene Achse. Die vollbusige Kurtisane erinnerte an die Mätressenherrschaft der römischen Kirche, die während des vierjährigen Konvents von 1414 bis 1418 auch in Konstanz Einzug hielt. In ihren zum Himmel gestreckten Händen hält Imperia zwei verkümmerte, gekrümmte, alte Männchen: die weltliche Macht, mit Reichskrone und Reichsapfel und die geistliche Autorität, mit päpstlicher Tiara. Beide wurden Opfer ihrer eigenen Libido.
Der junge Mann wartete bereits seit einer Viertelstunde am Steg und blickte auf den im Nebel schlummernden See, die Augen starr auf das unsichtbare Ufer auf der anderen Seite gerichtet. Die Kälte des Nebels und des Wassers zu seinen Füßen, das wie ein kalter glatter Stein alle Wärme um ihn herum aufzusaugen schien, erinnerte ihn an den zurückliegenden Abend in Venedig. Genau wie in der letzten Nacht schien ihn das Wasser in seiner sanften, wohltuenden Ruhe zu sich zu rufen. Er wünschte sich wie am Vorabend, dass er eintauchen sollte, um eins zu werden mit der samtenen Kälte. Hoch über den Dächern der Stadt war er gestanden, auf dem Giebel des Palazzo Mocenigo. Es war es ihm, als ob er erneut dort stehen würde, die Erinnerung sprang aus dem Dunkeln seines Gedächtnisses und riss ihn in die Tiefe.
Unter ihm waren einige Terrakottaziegel in die tiefgrünen Kanäle gefallen. Bei einer starken Herbstböe hätte er fast das Gleichgewicht verloren. Die Ausrüstung hing schwer an ihm, die Gurte der Seitentaschen scheuerten an seinen Schultern und unter der schwarzen Motorradmaske klebte der Schweiß. Doch bisher war alles wie nach Plan verlaufen. Die Alarmanlage des Museums hatte pünktlich um 01:42 Uhr für zehn Minuten ausgesetzt. Genau diese zehn Minuten waren es, die er brauchte, um durch die Öffnung 17B der Lüftungsanlage in das Archiv des Museums in der ersten Zwischenetage zum Keller einzusteigen, die Regalwände nach dem Nummerncode der für eingelagerte Schriftstücke aus dem Mittelalter von 1050-1500 abzusuchen und das Schloß des Faches mit einem kleinen Schraubenzieher aufzubrechen. Die Rolle, wegen derer er den gesamten letzten Monat in Venedig verbracht, das Museum täglich beobachtet und seinen Körper den Strapazen eines ausdauernden Trainings ausgesetzt hatte, schob er vorsichtig mit seinen schwarzen Handschuhen in die Metallröhre, die er um seine Schultern trug. Dann musste er erneut über die Lüftung aussteigen, sich zwischen dem gegenüberliegenden, baufälligen Palazzi und der Regenrinne bis zum Dach des Museums empor hangeln und dort stand er nun. So gut wie alles bis jetzt gelaufen war, konnte er sich wirklich nicht erlauben zu warten. In genau sieben Minuten musste er bereits am Fischmarkt sein. Der Bootsman hatte genaue Anweisung ihn auf direktem Wege nach Mestre zu bringen. Sollte er aber auch nur eine Minute später als vereinbart am Treffpunkt unter den Arkaden erscheinen, würde er wieder ablegen. Bis zum Markt waren es noch drei Fassaden, an denen man entlang klettern musste, dann über eine kleine Brücke, die zweite Abbiegung rechts, 400 Meter weiter geradeaus, dann die zweite rechts und links in die kleine Gasse, an deren Beginn eine weiße Madonnenstatue wachte. Er kannte den Weg mittlerweile im Schlaf und war ihn in so manchem Traum bereits entlang gehetzt, mit starren Augen und keuchendem Atem und der Gewissheit, den Mercato nicht rechtzeitig zu erreichen. Nicht so an diesem Abend. Als sich die kleine Gasse auf dem Markt öffnete, begrüßte ihn der hagere Fischer in seiner Barkasse stehend mit einem stummen Gruß und laufendem Motor. Auch danach war alles reibungslos verlaufen. Wie geplant hatte er den ersten Zug in Mestre genommen, wie vorhergesehen wurde er weder am Bahnhof in Mailand noch am Grenzübergang in der Schweiz auf seine besondere Fracht angesprochen. Es sollte in der Tat zwei Tage dauern, bis Direktor Antonio Gardena von seinem Schreibtisch im obersten Stock des Instituto aufschreckte, nachdem einer der Forschungsleiter ihn völlig außer Atem über die aufgebrochene Schatulle und die entwendete Rolle informierte. Gradenas üppiger Wohlstandbauch war dabei an die Tischkante gestoßen und der noch gerade frisch aufgebrühte Espresso verteilte sich über die ausgebreiteten Unterlagen zum Ausbaus des Museumsarchivs wir ein zuckrig, wucherndes Geschwür. Langsam saugten die Anträge und Blaupausen den creme-braunen, sich immer weiter ausbreitenden, Sirup auf.
Die Rolle gehörte einer nicht unbekannten Familie auf der anderen Seite des Bodensees. In den Wirren des Krieges hatte das Schriftstück den Besitz der Familie verlassen und war über Umwege in amerikanische, russische, kroatische Hände und letztlich in den Besitz der kulturhistorischen Abteilung des Institutio Mocenigo gelangt. Die Karte enthielt den wahrscheinlich detailliertesten und ältesten Familienstammbaum nördlich der Alpen, der die Vorfahren der Familie bis ins Jahr 1296 zurückverfolgte und seitdem über sechs Jahrhunderte erweitert worden war. Ein jahrelanger Rechtsstreit mit dem Institut, den deutschen und italienischen Behörden, der in einer sehr unversöhnlichen Situation zwischen dem zuständigen italienischen Kurator und der deutschen Honorakonsulin in Venedig endete, hatte der Rolle letztlich nicht zur Rückkehr verhelfen können. Die Familie war dennoch fest entschlossen, das wichtigste historische Dokument des Geschlechtes nach Hause zu bringen. Wenn auch letztlich über alternative Wege. Mit Gustav, dem jüngsten Sohn der Familie, hatte der junge Mann zwei Jahre lang ein Zimmer im College geteilt. Gustav und ihn verband eine stetige, wenn auch nicht besonders innige Freundschaft. Gustavs finanzielle Möglichkeiten und seine aristokratische Herkunft sollten ihn stets als den Überlegenen vorstellen, doch nach kurzer Zeit hatte er meist hinter seinem schlagfertigen und gescheiten Zimmergenossen zurückstehen müssen. So war den beiden jungen Männern eine neidfreie und wirklich intime Freundschaft immer verwehrt geblieben doch als sportsmen, hatten sie sich zuletzt auf dem Abschlußball verabschiedet. Sie sahen sich einige Jahre später auf Gustavs Verlobungsfeier wieder. Zu späterer Stunde wurde der junge Mann von Gustav beiseite genommen und in die Bibliothek zu seinem Vater und Großvater geführt. Pünktlich zur Ankunft des jüngsten Sprosses des Familie – Gustavs Verlobte war noch nicht sichtbar im dritten Monat schwanger – sollte auch der Stammbaum der Familie nach 90 Jahren wieder nach Hause finden. Dass ein Familienmitglied sich der Beschaffung annehmen könnte stand außer Frage. Auch konnte man sich nicht auf professionelle Hilfe von außerhalb verlassen, zu groß war die Gefahr später Opfer einer Erpressung oder Intrige zu werden. Die Kenntnisse von Stadt, Land und Sprache, eine ausgezeichnete körperliche Verfassung und seine ausgesprochene Integrität machten den jungen Mann in den Augen der Familie zu einen idealen Kandidaten für den Auftrag. Das Versprechen, alle bestehenden lästigen finanziellen Verbindlichkeiten in seinem Leben zu tilgen, ließ den jungen Mann letztlich einwilligen.
Eine anständige Portion Verspätung gehörte für Gustav, so erinnerte sich der junge Mann, zu seinem Verständnis von aristokratischer Überlegenheit. Wäre es nicht zu dieser seltsamen Begegnung gekommen, Gustavs nachlässiges Zeitgefühl hätte den jungen Mann keine Sekunde beunruhigt. Zwischen der Ankunft des Zuges am Konstanzer Bahnhof am Morgen und dem Treffen am Steg galt es einen halben Tag zu überbrücken. Die meiste Zeit schlief der junge Mann in einem überaus großzügigen Zimmer des Hotels Halm, das die Familie gebucht hatte. Gegen Mitternacht erwachte er in einer seltsamen Unruhe. Das wirkliche Ausmaß seines Freundschaftsdienstes und dessen mögliche Konsequenzen dämmerten ihm. Er musste sich beruhigen und verließ entgegen der Vereinbarung das Hotel eine Stunde vor Übergabe. Die Rolle blieb sicher im Safe des Zimmers. Ein Schulfreund hatte oft von einer netten Studentenbar namens Klimperkasten gesprochen. Kurz nach Mitternacht war die Bar im Dekor einer Kapitänskajüte unter der Woche kaum besucht. Ein paar Studenten und Nachtschwärmer saßen vereinzelt an der Bar oder auf den Sofas der Empore. Ein Bier war genau das was der junge Mann jetzt brauchte. Während der letzten Wochen hatte er keinen Tropfen Alkohol getrunken. Die Frage des Mädchen am Tresen, für welche Sorte er sich entschieden hätte, beantwortete er zunächst mit einem verlegenen Lächeln. Ein Werbeplakat aus den 90ern half ihm. In dicken weißen Lettern stand dort. „Wir wollen Wulle“. Eine Flasche mit Schnappverschluß war darunter abgebildet. Das erste Bier schmeckte angenehm herb und das zweite beruhigte bald sein aufgebrachtes Gemüt. Der junge Mann hatte sich auf eines der Sitzkissen am Fenster geflezt. Nur eine halbe Stunde und die Angelegenheit wäre erledigt.
Sie saß in der Ecke des Raumes auf dem Biedermeiersofa. Sehr aufmerksam, doch ein wenig zu modisch gekleidet und seltsam konzentriert ohne etwas Bestimmtes zu tun, machte sie ungewollt auf sich aufmerksam. Sie war groß, schlank, dezent gebräunt und hatte eine ungemütliche, fast militärisch aufrechte Haltung, während sie ihre langen Beine übereinander schlug. Hätten sich ihre Blicke nicht im richtigen Moment getroffen, wäre der junge Mann wenig später einfach in Ruhe gegangen. Jetzt sahen sie sich tief in die Augen, doch in der Art, wie sie ihn beobachtete war etwas Ungewöhnliches. Sie musterte ihn neugierig, aber so, als ob sie etwas von ihm wollte, das rein gar nichts mit ihren roten geschwungenen Lippen und ihrem wohlgeformten Schlüsselbein zu tun hatte. Vielleicht war sie Italienerin? Aber, ganz sicher war sie das, Dummkopf… Der letzte Schluck Wulle schmeckte schal. Er blickte nervös in Richtung Tür. Wie lange wurde er schon beobachtet? Wieder trafen sich ihre Blicke. Dieses Mal würde er Stand halten. Ihr Charme mochte überwältigend sein, dachte er, doch im Ernstfall war er zweifelsohne der Stärkere. Für einen Moment saßen sie sich so gegenüber. Dann drehte sie sich weg, stand auf ging an ihm vorbei auf die Spiegeltür zu und verschwand auf der Toilette. Der junge Mann sprang auf und rannte zur Tür hinaus und hört nicht auf zu rennen bis er die Rezeption des Halm erreicht hatte. Mit der Rolle in einer blauen Sporttasche stand er nur zehn Minuten später pünktlich am Steg. Sie konnte ihm unmöglich gefolgt sein und doch erwischte er sich dabei, wie er sich unzählige Male umblickte.
Die Übergabe war für Punkt zwei Uhr Nachts vereinbart. Hier zu Füßen der Imperia. Weniger als 24 Stunden nach der ‚Heimkehr‘, wie es der Großvater in der Bibliothek wohlwollend formuliert hatte. Seit mehr als zwanzig Minuten aber wartete der junge Mann. Und das Boot kam nicht. War Gustav aufgehalten worden? Hatte die Familie es sich anders überlegt? Oder schlimmer, steckte sie in Verhandlungen mit den Auftraggebern der jungen Dame, die doch genau wussten, dass die Rolle hier und längst nicht mehr in Venedig war? Langsam aber sicher wurde ihm mulmig bei dem Gedanken, was er machen sollte, wenn es sich Gustav und seine noble Familie wirklich anders überlegt hätten. Verfügte er eigentlich über irgendwelche Beweise, in wessen Auftrag er da gehandelt hatte? Er versuchte sich krampfhaft an mögliche Beweisstücke zu erinnern, die ihm seine Auftragsarbeit belegen und ihm vielleicht milderndes Strafmaß ermöglicht hätten. Doch Gustav hatte es sich nicht anders überlegt. In erkennbarer Ferne schwebte ein dunkler Holzkörper langsam über die nachtblaue, spiegelglatte Wasseroberfläche in Richtung des Stegs. Nur das leise, rhythmische Summen des Motors im ersten Gang war zu hören. „Guten Abend!“ In dem wabernden Nebelmeer waren die Umrisse von Gustav zu erkennen. Mit ihm in der stolzen Riva Yacht standen zwei kräftige Männer in dezenten dunklen Marinejackets und blauen Rollkragenpullis. Der eine lenke die Riva mit sicherer, geübter Hand an die Flanke des Stegs, während sein Kollege mit fast nebensächlicher Bewegung ein Tau um den Ring am Steg warf. Der junge Mann hatte eine freundschaftlichere Begrüßung erwartet. Nachdem die Riva am Steg zu Ruhe gekommen war, blieb Gustav im Boot. Die beiden Männer hatten sich hinter ihm aufgebaut. Für einen Moment schwiegen alle. „Du hast die Rolle“. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung. „Gibst Du Sie mir?“ Und noch immer machte er keine Anstalten auszusteigen. Er öffnete und schloß mehrmals seine, vor dem Bauch angewinkelte, Hand. Blicke wechselten von Gustav zu den beiden Matrosen. Langsam drehte der junge Mann sich schließlich zur Tasche auf dem Boden, öffnete sie und nahm die schwarze Schutzhülle aus Kunststofffaser heraus. Als Gustav ihm seine Hand entgegenstreckte, zögerte der junge Mann. „Gustav, was steht wirklich in der Rolle? All diese Arbeit für ein Stück Familiengeschichte?“ Gustav stellte jetzt einen Fuß auf die Kante der Riva und streckte dem jungen Mann fordernd seine offene Hand entgegen. Seine eisblauen Augen waren ausdruckslos. „Gib… mir… die… Rolle!“