Café Hawelka, Wien

 

Es war einer dieser Tage, an denen man zu spüren bekam wie provinziell diese Hauptstadt wirklich war. Nicht, dass es den Rest des Jahres wesentlich anders gewesen wäre. Öffnungszeiten jenseits der Mittagspause am Wochenende oder pulsierende Kneipenviertel suchte man auch sonst vergebens. Aber nach dem Jahreswechsel war Wien wirklich nahezu ausgestorben. Die Stadt schien nur noch von Taxifahrern und Oberkellnern bevölkert zu sein. Und von Touristen natürlich, aber auch die verschwanden abends auf unerklärliche Weise hinter der bezaubernden Kulisse der Stadt. Es war der wohl denkbar schlechteste Zeitpunkt um alleine in Wien zu sein. Und wenn man gerade frisch getrennt lebte, konnte man sich gleich erhängen. Der einzige Zufluchtsort auf der Suche nach Geschäftigkeit war, wie im Provinziellen auch, das Touristische. Caféhäuser wie das Hawelka, waren zu jeder Jahreszeit gut besucht. Hauptsache unter Menschen sein, wenn auch unter wildfremden: Unter amerikanischen Lonely Planet Lesern, die sich noch bei der zweiten Melange selbst versichern konnten das versprochene letzte Kleinod der „real austrian coffeehouse culture“ gefunden zu haben. Oder unter japanischen Hipsterstudenten, die sich mit ihrem Besuch gewiss waren, etwas für die heimischen Mindestansprüche an Sauberkeit und Höflichkeit wirklich Verbotenes zu tun und sich jedes Mal kindisch über schlecht gewaschenes Besteck und barsche Oberkellner in gebrochenem Schmäh-Englisch freuten. Oder unter Deutschen, der neuen Welle des Popliteraturtourismus folgend, die nur hierher gekommen waren, weil Alexander von Schönburg die Toiletten an diesem Ort einmal mit Sanitäreinrichtungen im Gazastreifen verglichen hatte. Unter all diesen Unbekannten saß sie, hatte früh morgens bereits einen der begehrtesten Plätze an einer Fensternische ergattert, und hoffte, dass der Tag in dieser provinzellsten aller Hauptstädte Europas einfach vorüberziehen würde. In dieser Stadt mit den wohl offensichtlichsten Verstößen gegen geltendes EU-Recht. Allen voran das ewige Gequalme in den Kneipen, das von vielen kaisertreuen Einheimischen als letztes Aufbäumen der Monarchie gegen Brüssel gelobt wurde.

Wie hatte es ihr nicht von Anfang an klar sein müssen, dass eine Liebe mit einem Mann aus dieser alten, staubigen Stadt des grantigen Anachronismus, nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Ein Mann, der sie nicht als emanzipierte Frau gesehen hatte, sondern als „schützenswertes Fräulein“. Und wenn sie schon ihren eigenen Weg im Leben gehen wollte, dann in seiner Begleitung doch bitte mindestens auf der dem Verkehr abgewandten Seite des Gehsteiges. Mit jedem ungelenken Gast aus Ohio, den ein schwitzender, kafkaesker Oberkellner an ihr vorbei bugsierte, wurde ihr klar, dass sie ihn nie wirklich verstanden hatte: Sie hatte nicht verstanden, warum jede durchzechte Nacht auf einem der majestätischen Bälle, von denen einer prunkvoller war als der andere, obligatorisch mit einem Käsekrainer zu beenden war. Oder warum ein Mann, dessen sonore Stimme jedes Frauenherz wie mit dem Vorschlaghammer getroffen hätte, einen Dialekt sprechen musste, den scheinbar die ganze Welt zu lieben schien, der für sie aber direkt nach Sächsisch weit oben in der Rangliste der phonetischen Liebestöter rangierte. Oder wie ein Mann mit der selbstverständlichen Gelassenheit eines 100 Jahre alten kaiserlich königlichen Diplomaten mit ihr die Welt bereisen, aber selbst in den schönsten Cafés Italiens seinen Espresso mit nahezu einstudierter Skepsis und einem Anflug von Verachtung zu trinken pflegte. Wie ein Mann fünf verschiedene Möglichkeiten wusste, sich die Krawatte zu binden, aber nur EIN einziges Geschäft in der Wollzeile kannte, in der man sie kaufen durfte. Oder wie ein Mann die schönsten Komplimente und Geschenke machen konnte, die ein „beschützenswertes junges Fräulein“ sich nur wünschen konnte, und doch nicht verstand, dass eine emanzipierte Frau nur einen begrenzten Vorrat an Perlenschmuck und langen Ballhandschuhen brauchte. Ein Mann, der hervorragend kochen und alles was der wohlduftende, samstägliche Naschmarkt verkaufte in Windeseile in ein Festmahl verwandeln konnte, aber nicht ein einziges Mal zu begeistern war etwas zuzubereiten, das nicht auf der offiziellen Speisekarte des Hotel Sacher stand. Nach einigen Stunden des Dahindösens in Hawelkas feuchtwarmer Troposphäre, in der Erinnerung um diesen eigentümlichen Mann in dieser eigentümlichen Stadt, wurde ihr auf tragische Weise bewusst, dass man vom Leben nicht zu viel erwarten durfte. Dicke Tränen rannen über ihre Wangen. Er hätte ihr jetzt sicherlich ein gestärktes Stofftaschentuch mit Initialen gereicht. Er hätte sie wie eine Prinzessin hofiert und wäre mit ihr im Fiaker überall hin gefahren, solange der ‚Steffel‘ noch in Sichtweise wäre. Er hätte sie auf Händen getragen und wäre vielleicht sogar mit ihr durch den Regen getanzt, aber eben nur im Dreivierteltakt.